grandpa_wolf hat geschrieben:
Bis heute habe ich es für mich nicht zufriedenstellend beantworten können, wie ich selbst mich in dieser Zeit verhalten hätte und ob ich als Familienvater den Mut gefunden hätte, zumindest im Stillen wo möglich Sand ins Getriebe zu streuen oder als Soldat womöglich den Mut zur Desertation aufgebracht hätte (und Mut braucht es dafür).
Zumindest ist diese Unsicherheit ein guter Grund, dafür einzutreten, daß sich diese Frage mir und meinen Kindern nie stellen wird.
Persönlich habe ich mich in meiner Jugend immer gefragt, wieso viele Familien involviert waren, wenige aber nicht.
Das ist immer dann spannend, wenn du als vermeintlicher Schwiegersohn auf der Couch sitzt, den Spieß umdrehst und in Familienalben blätterst.
Da kann ich von vielfältigen Erfahrungen berichten.
Es wurden Hakenkreuze und Bilder aus Familienalben entfernt, bestimmte Personen totgeschwiegen, keiner wußte etwas, viele Tabuthemen. Das Problem liegt im Detail.
In der Schule herrschte zum Thema schweigen oder es war eine Therapiestunde um eigene Erlebnisse an der Ostfront oder sonstwo aufzuarbeiten.
Andere sind ganz offen für ein "System von Recht und Ordnung" eingetreten, die Verbrechen zwar abgelehnt, aber persönlich keine Schuld.
Das Interessante ist, daß du bis heute nicht ins Detail nachfragen darfst.
Versuchst du etwa die Nazizeit konkret in deiner Stadt oder deinem Landkreis aufzuarbeiten, dann merkst du relativ schnell, wie tief die Schuld wirklich war und wieviele das alles verdrängen möchten, weil sie sich ihrer Schuld bewußt sind.
Am Ende kommst du aber zu dem Schluß, daß es eine weltoffene, liberale, tolerante und von Menschlichkeit getragene Familienkultur ist, die Menschen vor der Schuld bewahrte.
"Mut zur Desertation" war in den meisten Fällen gar nicht notwendig. In der Regel hat es genügt, darauf hinzuweisen, daß man eine bestimmte Tätigkeit nicht mochte oder nicht unterstützte, auch als Soldat, weil es der eigenen Persönlichkeit nicht entsprach.
Gerne erinnere ich mich an meine Bundeswehrzeit als ich gefragt wurde, ob ich mit Absicht daneben schieße. Man kommt nie in die Lage, Mauerschütze zu sein, wenn man nicht trifft. Dazu ist "Mut zur Desertation" nicht notwendig.
Wer ab und zu Fehler macht, darf auch aus Versehen ganze Akten schreddern, Befehle falsch weitergeben etc.
@Longhorn555
Das Schulwissen, das über die Nazizeit verbreitet wird, ist leider auch sehr einseitig.
Es gab Mitläufer im System, die das System aufgrund ihrer Handlungen stabilisiert haben und dennoch mit Vielem nicht einverstanden waren und vieles nicht wußten.
Man denke nur an Personen wie Wernher von Braun.
Es ist eine nicht zu unterschätzende Belastung, das Grauen der Konzentrationslager zu sehen, rückwirkend dann alle eigenen Handlungen der letzten 10 Jahre abzuklopfen, um für sich erst einmal die persönliche Schuld festzustellen.
Zunächst brachte die Nazizeit ja für für viele eine persönlich positive Entwicklung, bevor es dann im Fiasko endete.
Ziel aller Schuldvorwürfe gegenüber Verbrechern darf aber nicht die Bestrafung sein, sondern die Resozialisierung.
Sind Systeme lernfähig?
Deswegen gehört die Wiedervereinigung und die Einigung Europas genauso zur Geschichte, wie der Nationalsozialismus.
Schuld beginnt bei der BILD-Zeitung und dem Wunsch der Entfernung Griechenlands aus dem europäischen Währungssystem.
Deswegen sind das noch lange keine Verbrecher.
Es ist aber ein Glied in der Folge von Fehlentscheidungen, die verheerende Folgen haben können.
Die Fraktion der Griechenland-Rauswerfer ist sich heute keiner Schuld bewußt.
Sie tritt für Recht und Ordnung ein.
Kurzfristiges Profitdenken verdrängt Weltoffeneheit, Toleranz, Liberalität und Menschlichkeit.
Umso klarer müssen diese Ziele eingefordert werden und zwar schon ganz am Beginn, bevor es eskaliert und es am Ende zu entsetzlichen Verbrechen führt, die sich in ihrem Ausmaß und Brutalität scheinbar niemand erklären kann.