Liberty-City

Eine Frühlingsgeschichte für Kinder und Kind-Gebliebene

Wolf von Fichtenberg


Der Spatz im Spiegel

Kleine Tropfen rannen langsam und beständig von den Eiszapfen am Dachrand hinab und fielen auf den Boden. Kleine Pfützen hatten sich gebildet und die fallenden Wasserperlen erzeugten beim eintauchen in die Lachen kleine Kreise.
Die Sonne hatte mit ihrer Kraft begonnen, das Eis und den Schnee zu schmelzen und ließ ahnen, dass der Frühling nahte, ja hier und da schauten auch schon die ersten Schneeglöckchen aus dem Harsch heraus und reckten ihre Blütenkelche der wärmenden Sonne entgegen.
„Schau nur Blaufeder," zwitscherte Goldbrüstchen, die kleine Kohlmeisendame ihrem Gefährten zu, der unter einer Meisenkugel hängend versuchte, die letzten Körner aus dem ranzig gewordenen Fett herauszupicken, „Schau nur, die Sonne lacht uns zu !“
Blaufeder hörte auf zu picken und flog zu Goldbrüstchen hinauf, die auf einem kleinen Ast in dem alten Birnbaum wippte und wohlig ihr Gefieder aufplusterte und den schon wärmenden Wind hinein streichen ließ.
„Ja Liebste“, erwiderte Blaufeder, als er sich neben sie setzte und ihr ein mitgebrachtes Hirsekörnchen reichte: „Der Winter war ja auch sehr hart gewesen.“
„Nur gut, dass es hier ein Futterhäuschen gibt“, zwitscherte Goldbrüstchen und Blaufeder nickte während auch er seine Federn aufplusterte.
„Komm Goldbrüstchen, “ sagte er dann, „lass uns doch einmal nachschauen, ob unsere Wohnung noch frei ist. Da ist es sicherlich gemütlicher als zwischen den kahlen Zweigen.“
Goldbrüstchen nickte und sie flogen los, - über den dicken Kirschbaum hinweg, an der langen Hecke entlang und dann hin zu dem alten Apfelbaum, wo sich die Wohnung befand, von der er gerade noch gesprochen hatte. Es war ein schmucker Meisenkasten, der dort auf halber Höhe, mitten im Baum, hang. Gerade dort, wo es im Sommer immer so viele Insekten gab. Blaufeder stöhnte voller Sehnsucht auf, als er daran dachte.
„Oh wie schön“, zwitscherte Goldbrüstchen, „es ist noch alles da. Komm, wir schauen einmal hinein.“
Kaum hatte sie dies gesagt, da war sie schon auf die Anflugstange gehüpft und steckte den Kopf voller Neugier in das Loch des Kastens und zog ihn dann aber sofort wieder heraus.
„Blaufeder“, jauchzte sie glücklich, „es ist noch alles da. So wie es im letzten Jahr war.“
Dann wurde sie aber etwas traurig:
„Du, nur unsere Matratzen sind weg!“
„Aber Liebste, “ zwitscherte Blaufeder, „das machen die Menschen doch im Herbst immer so.
Sie nehmen alles heraus und säubern den Kasten. Im Frühling wäre doch alles nass."
Goldbrüstchen nickte, denn Blaufeder musste das wissen, denn er war ja einen Sommer älter als sie - einen erfahrenen Gefährten hatte sie gefunden, als sie sich im letzten Sommer in einer alten, morschen Baumhöhle vor dem Gewitter zu bergen suchte und dort Blaufeder traf, der dort mit nassem Gefieder das Wetter ebenfalls abgewartet hatte.
„Komm“, sagte Blaufeder nun, „wir polstern das Nest neu aus. Ich habe vorhin einen Heuballen und eine Moosfläche gesehen.“
Goldbrüstchens Laune wurde gleich besser und so schnell sie konnte flog sie ihrem Gefährten nach, der die große Hecke ansteuerte, wo vor dem Regen geschützt ein Heuballen lag.
Vorsichtig sahen sie sich um, bevor jeder der beiden kleinen Meisen einen Halm aus dem Ballen zog, mit dem sie schnurstracks zu Vogelkasten zurückflogen. Sogleich begannen sie ein Nest zu bauen, das heißt: Blaufeder legte den Halm ab und Goldbrüstchen zupfte ihn dorthin, wo er liegen soll, denn sie hatte darin großes Geschick.
So flogen sie Tag für Tag zu dem Heuballen und zupften Halm für Halm heraus. Ab und zu nahmen sie auch etwas Moos mit, welches sie dort fanden, wo der Schnee schon geschmolzen war, denn die Wärme der Sonne wuchs mit jedem Tag. Des Abends, wenn die beiden müde wurden, setzten sie sich auf das Dach des Kasten und zwitscherten gemeinsam eine Melodie und legten die Schnäbel aneinander.

Wie sie nun wieder einmal schwer bepackt mit einem Halm heran geflogen kamen, sahen sie plötzlich einen Spatz aus ihrer Wohnung herausfliegen.
Goldbrüstchen ließ vor Schreck gleich ihren Halm fallen und flog aufgeregt auf die Anflugstange und Blaufeder folgte ihr, so schnell er konnte.
Goldbrüstchen zeterte und schimpfte aufgeregt: „Hausbesetzer!“
Davon hatte sie schon gehört, - und das nun in ihrem Meisenkasten!
Blaufeder ließ seinen mitgebrachten ebenfalls Halm fallen und steckte den Kopf in das Einflugloch.
Nein! - wie sah es da nur aus! Jeder noch so ordentlich gelegte Halm war geknickt und alles war durcheinander geworfen worden. Nichts lag mehr an seinem Platz.
„He, - Ihr da!“ schrie es plötzlich hinter ihnen, „weg von meinem Haus! Jetzt wohne ich hier! Diese Wohnung ist besetzt!"
Ein kecker Spatz mit zerzausten Federn und sehr schmutzigen Krallen war auf einem Ast gelandet und drohte:
„Haut ab, sonst setzt es was!“
„Entschuldigung“, zwitscherte Goldbrüstchen, „das muss gewiss eine Verwechslung sein, das ist unser Haus.“
„Papperlapapp!“ schimpfte der Spatz zurück, „das ist jetzt mein Haus, - so wahr ich Rudi Rüpel heiße!“
Daraufhin flog er auf die beiden zu, drängte sie beiseite und verschwand in dem Häuschen, um dann sofort wieder herauszuschauen.
„Los verschwindet!“ zeterte er weiter, „sonst hole ich meine Bande!“ Zugleich machte er Anstalten, laut los zu schreien.
Blaufeder stippte Goldbrüstchen mit dem Schnabel an und geschwind flogen sie zu der hohen Tanne die nur wenige Flügelschläge entfernt stand und wo sie dichtes Grün vor den Blicken des Spatzen verbarg.
Oh ja, - von Rudis berüchtigter Spatzenbande hatten sie schon gehört, - wie sie im Sommer in den Pfützen badeten und mit schlammigen Krallen überall herumtappten, am Morgen lauthals herumkreischten und alle aufweckten und im Winter die anderen Vögel von den Futterstellen verjagten. Ja, Rudi hatte nicht einmal Angst vor den großen Drosseln, - nur Elli Elster respektierte er, denn sie hatte ihn einmal, als er besonders vorlaut gewesen war, an den Schwanzfedern gezogen, so dass ihm seitdem eine Feder dort fehlte. Aus diesem Grund machte er auch einen großen Bogen um Elli, wenn er sie sah. Aber ansonsten zeigte er die Stelle gerne als „Kampfnarbe“ herum.
„Was machen wir nun?“ fragte Goldbrüstchen leise und sah Blaufeder fragend an.
„Ich weiß es nicht, Liebste“, antwortete er ebenfalls ratlos und schaukelte missmutig auf dem Zweig herum, auf dem er saß.
„Er hat alles kaputt gemacht“, sagte er wütend, „wo doch schon alles fast fertig war.“
Goldbrüstchen nickte traurig und mutlos schauten die beiden in der Gegend umher, und ihre Blicke schweiften doch immer wieder zu dem Vogelhäuschen, in welchem Rudi Rüpel nun hauste.
Wie sie nun da so lustlos saßen, hörten sie ein Gurren über sich. Sie schauten hoch und sahen sie ein Wildtaubenpaar, das gerade dabei war, einige Zweige in ihrem Nest zu befestigen, wobei sie diese geschickt ineinander verhakten. Als die beiden Tauben die kleinen Meisen sahen, wie sie da so traurig auf dem Ast wippten, unterbrachen sie ihr geschäftiges Treiben und fragten herunter:
„Ihr seht aber traurig aus. Wollt ihr Euch nicht beeilen, die Sonne steht schon tief und wenn es gleich dunkel wird, findet ihr bestimmt nichts mehr für euren Nestbau. Gurr. Oder seit ihr damit schon fertig? Gurr."
Blaufeder seufzte tief und erzählte den Tauben dann, was geschehen war.
Befremdet schauten die Tauben sich an und erzählten dann, das auch sie den Rudi kannten, denn im letzten Sommer hatte er während der Brutzeit extra gelärmt und sie beim Brüten der Eier belästigt. Manchmal habe er sie sogar mit leeren Sonnenblumenkernen beworfen, - aber was man nun machen könne, das wüssten sie auch nicht so recht.

Die Sonne versank und Goldbrüstchen und Blaufeder kuschelten sich heimatlos geworden, nahe am Stamm sitzend, aneinander und schliefen ein, aber die Gedanken an ihr Häuschen schreckte sie immer wieder auf: Das schöne Häuschen, das von dem Chef der Spatzenbande besetzt war.
Am Morgen machten sie sich auf, erst einmal zu frühstücken. Hoch flog Goldbrüstchen über die Bäume und Blaufeder folgte ihr. Als sie an der hohen Fichte vorbeikamen, in deren Zweigen Elli Elster wohnte, sahen sie es auf einmal blinken. Elli Elster legte gerade etwas Glitzerndes in ihr Nest und flog dann rasch wieder davon.
Neugierig flogen die beiden Meisen heran und schauten nach, was das so hell in der Morgensonne geschienen hatte.
Ein merkwürdiges Ding war das, - es hatte viele Ecken und war silbrig wie der kleine Teich in der Mittagsonne an einem heißen Sommertag. Vorsichtig hüpften Goldbrüstchen und Blaufeder auf einem Ast ganz nah an das Nest heran.
Oh Schreck! Was war das?
Als Blaufeder in das glitzernde Ding schaute, sah er plötzlich eine andere Meise und dann da, noch eine Meise ... und diese sah aus wie seine Gefährtin Goldbrüstchen.
Auch Goldbrüstchen sah zwei andere Meisen, aber die eine sah aus wie Blaufeder.
Die beiden Meisen erschraken sehr, - aber auch die beiden anderen Meisen in dem Glitzerding erschraken!
Blaufeder hob einen Flügel und die eine Meise in dem Ding hob auch den Flügel.... Goldbrüstchen öffnete den Schnabel weit... und ebenso machte es die andere Meise in dem Glitzerding.
Mutig nahm sich Blaufeder ein Herz und hüpfte ganz nah an das Ding heran und dann hackte er mit dem Schnabel leicht zu, so das es nur ein wenig wehtat. Aber auch die Meise in dem Ding hackte zu ...Oh, was hatte sie für einen harten Schnabel!
Blaufeder ging einen Hüpfer zurück und auch die Meise in dem Ding tat dies.
Ratlos sahen sich Blaufeder und Goldbrüstchen an, bevor sie Elli Elster heranfliegen sahen. Eilig machten sie sich davon und versteckten sich hinter einigen dichten Zweigen, doch ihre Neugier war größer als ihre Angst vor Elli, die sehr grob sein konnte.
Elli hatte wieder so ein Glitzerding im Schnabel aber jetzt war sie nicht allein, denn es folgte ihr der alte Elmar Elster, der ebenfalls etwas Glitzerndes trug.
„Prima Sache, die Glitzerdinger“, krächzte Elli und klemmte ihr Teil in den Zweigen des Nestes fest.
„Sicher, Elli, “ antwortete Elmar rau zurück, „da können wir uns dann ja jeden Tag darin sehen und bewundern!“
Elli nickte und dann sah sie auch schon die beiden Meisen, die eng aneinander gedrängt in dem Grün der Zweige saßen.
„Was wollt ihr hier?“ herrschte sie Goldbrüstchen und Blaufeder an, „ stehlen, - was?“
Ein angedeuteter Schnabelhieb unterstrich Ellis typische schlechte Laune und Blaufeder schluckte.
„Nein, nein“, stotterte er, „wir waren nur neugierig, was das so glitzerte...und da haben wir dann einfach einmal geschaut.“
„Ha..! Jetzt habt ihr genug geschaut. Verschwindet!“
Mit wildem Flügelschlag fiel auch Elmar in das Gezeter ein.
Rasch flogen die beiden Meisen davon und setzten sich atemlos auf den Ast eines entfernten Baumes, wo sie ihr rasendes Herz zu beruhigen hofften.
Plötzlich reckte sich Blaufeder.
„Goldbrüstchen - ich hab die Lösung! Komm wir sehen einmal zu, wohin Elli und Elmar fliegen.“
Gerade in diesem Augenblick waren die beiden Elstern zu einem neuen Flug gestartet. In sicherer Entfernung folgten sie den beiden und sahen, wie Elli und Elmar an einer Schutthalde landeten, wo es im Sonnenlicht funkelte und glitzerte.
Geschützt, in einem dichten Gebüsch sitzend sahen sie, wie die Elstern je ein Glitzerding in den Schnabel nahmen und zu ihrem Nest zurückflogen.
Blaufeder und Goldbrüstchen warteten einige Zeit lang ab und flogen dann ihrerseits zu den Glitzerdingern. Vorsichtig hüpften sie heran und in welches der Glitzerdinger sie auch schauten: Überall sahen sie Meisen ... und jede sah aus wie Goldbrüstchen und Blaufeder.
Blaufeder grinste, sofern Meisen dies können, und stieß seine Gefährtin an.
„Komm, Liebste, “ sagte er, „lass uns ein Glitzerstück nehmen, - ich weiß, was wir tun.“
Sie suchten ein passendes Stück aus und flogen, es abwechselnd im Schnabel tragend, zu dem besetzten Vogelhäuschen zurück.
Blaufeder und Goldbrüstchen drückten sich eng hinter einigen dickeren Zweigen zusammen und warteten ab, wann Rudi Rüpel aus dem Haus ausfliegen würde, denn das er da war, hörte man an dem Lärm, den er veranstaltete und an den Halmen, die er liederlich aus dem Meisenkasten warf.
Es dauerte gar nicht lange, dann war es soweit. Rudi schaute aus dem Einflugloch heraus und flog bald danach davon.
Blitzschnell flogen Blaufeder und Goldbrüstchen zum Vogelhäuschen und kletterten rasch durch das Loch hinein. Schlimm sah es dort aus, sehr schlimm. Das ganze Nest war mit Unrat und allerlei Gerümpel vollgestopft worden.
Sie suchten sich einen festen Stand und hielten gemeinsam das Glitzerstück, - von dem Ihr nun sicherlich wisst, dass es sich um eine Spiegelscherbe handelt-, vor das Einflugloch.
Gerade als ihnen die Schnäbel schon lahm werden wollten und auch die Füße nicht mehr so richtig krallten, hörten sie, wie Rudi Rüpel auf der Anflugstange lärmend landete.
Lebhaft konnten sie sich vorstellen, was Rudi nun sah, - ja sie hörten es auch:
Rudi zeterte und schimpfte. Den vermeintlichen anderen Spatz den er sah und der in seinem geraubten Haus saß, beschimpfte er aufs übelste. Blaufeder und Goldbrüstchen hörten Ausdrücke, die sie nie zuvor gehört hatten.
Plötzlich ging Rudi Rüpel mit kräftigen Schnabelhieben auf seinen vermeintlichen Gegner los, aber das Glitzerding war hart.
Blaufeder und Goldbrüstchen hörten nur noch, wie Rudi laut „Aua .... aua“ kreischte und nach dem letzten Angriff mit verbogenem Schnabel völlig entkräftet von der Anflugstange fiel. Die beiden Meisen legten das Glitzerding ab und nahmen den ganzen Unrat und warfen ihn Rudi hinterher, der sich eilig davonmachte.


...Und wie es nun weiterging?

Goldbrüstchen und Blaufeder räumten ordentlich auf, polsterten das Nest gemütlich neu aus und etwas später setzte sich Goldbrüstchen auf fünf kleine gesprenkelte Eier. Danach hatten sie genug damit zu tun, die fünf jungen Meisenküken satt zu bekommen.
Die beiden Tauben hatten alles mit angesehen gurrend den anderen davon berichtet.


...Aber was wurde aus Rudi Rüpel?

Nun, er wohnt jetzt - genauso wie früher, unter der kaputten Dachrinne an der Scheune. Eine Bande hat er nicht mehr, denn die anderen Spatzen wollten keinen Anführer, der nicht einmal mit einem anderen „Spatzen“ fertig geworden ist.
Er ist übrigens nie wieder näher als hundert Flügelschläge an den Meisenkasten heran geflogen.
Nur manchmal, da sitzt er auf dem Dach der Scheune und schimpft kräftig los oder hackt- mit seinem krummen Schnabel auf der Dachrinne herum.
Dass es sich bei seinem Gegner um einen Spiegel gehandelt hatte, weiß er bis heute noch nicht und wir verraten es doch gewiss auch nicht, denn Blaufeder und Goldbrüstchen sollen doch auch im nächsten Frühling wieder in ihrer Wohnung leben und ein Heim für ihre kleinen Meisenküken haben.

Was für ein einfühlsamer und malerischer Text.
Manchmal ist der Verstand ein Segen...
Die "Fabel", mein lieber Wallenstein, hat mir sehr gut gefallen.
Man merkt, dass Du ein richtiger Autor bist

gute kindergeschichte, aber ich glaube sie gefällt auch erwachsenen. mir gefiel sie.